Die Unfälle von Muriel Furrer und Gino Mäder warfen viele Fragen auf. Unter anderem: Warum hat niemand etwas mitbekommen? Velorennarzt Peter Baur gibt einen Einblick in seine Arbeit. Am 15. Juni 2023 stürzt Gino Mäder in der Abfahrt vom Albulapass und erliegt einen Tag später seinen Verletzungen. Am 26. September 2024 stürzt Muriel Furrer bei der Abfahrt von der Schmalzgrube an der WM in Zürich und stirbt einen Tag später.
Zwei Stürze, zwei tragische Schicksale und zweimal ein Schock für die Radsportwelt. Bei Mäder stellt sich die Frage: Was ist geschehen? Niemand hat den Sturz des Schweizers gesehen. Bei Furrer: Wie kann das geschehen? Muriel Furrer lag lange unentdeckt im Wald.
Abfahrt am GP Rüebliland ist rasant
Ein Teil der Antworten auf diese Fragen finden sich an einem Sonntagmorgen im luzernischen Nebikon. Dort starten rund 170 Nachwuchsfahrer zur dritten Etappe des GP Rüebliland, einem traditionsreichen Mehrtagesrennen für Junioren. Mathieu van der Poel war schon da, Tom Pidcock und Quinn Simmons ebenfalls, heute alles Stars der Szene. Mit dabei ist an diesem Tag auch Peter Baur. Er ist leitender Arzt für Anästhesie und Intensivmedizin und amtet als Rennarzt.
Vor dem Start prüft Baur nochmals den Notfallrucksack, der im Kofferraum liegt. Dort ist alles drin, was der Arzt hofft, heute nicht zu gebrauchen. Vom Verbandsmaterial bis hin zur Sauerstoffflasche, um einen Fahrer im Notfall zu intubieren. Auf dem Dach ist ein Warnsignal angebracht, für den Notfall. Am Steuer des Medical Cars sitzt Hans Reis. Hans, man ist per Du, kennt die Region, das hilft. Die Abfahrten sind schnell und kurvenreich.
Der Funk knirscht. «Noch 90 Sekunden», sagt der Sprecher von Radiotour. Hans dreht das Schlagerradio leiser. Das Peloton rollt durch die Werkhalle und die Lastwagenallee eines lokalen Transportunternehmens. Der Medical Car ordnet sich direkt hinter dem neutralen Materialwagen und dem Auto der Rennkommissärin ein. Das Rennen geht gleich richtig los. Kein lockeres Einfahren, kein «mal schauen, wie die Beine am dritten Tag sind». Bereits vor dem ersten Anstieg verliert ein Fahrer den Anschluss. Hans sagt: «Der hat sich viel zu warm angezogen.» Der Fahrer vom Veloclub Lugano wird durch die Wagenkolonne gereicht. Falls er einen medizinischen Notfall hat, befindet sich ganz hinten eine Ambulanz mit zwei Rettungssanitätern.
Im Anstieg fallen weitere Fahrer aus dem Feld. Sie können nach dem Volg-Bergpreis aber wieder aufschliessen. Die Abfahrt ist rasant. Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten im Rennen nicht.
Als Laie zuckt man schon einmal zusammen, wenn die Fahrer von hinten mit 70 km/h auf der schmalen Strasse am Auto vorbeischiessen. Hans hupt – nicht aus Ärger, wie andere Autofahrer in solchen Situationen, sondern, um dem Fahrer im vorderen Auto mitzuteilen: «Achtung, es kommt einer.» Nach der ersten Abfahrt entspannt sich die Stimmung im Auto, es ging alles gut.
Radsport wird immer schneller
Je länger das Rennen dauert, desto mehr zieht sich das Feld auseinander, der Dichtestress ist jetzt deutlich kleiner, Baur wirkt gelöster. Es wird mehr gesprochen im Auto. Hans sagt: «So wie es jetzt läuft, haben wir heute keine Arbeit. Das ist gut.» Am gefährlichsten sei es, wenn die Fahrer auf einem Pulk zusammen seien, sagt Baur. «Den grössten Sturz hatten wir beim GP Rüebliland auf einer breiten, übersichtlichen Strasse. 20, 30 Fahrer sind gestürzt.» Das war im ersten Jahr nach Corona. Die fehlende Routine habe man den Fahrern angemerkt, sagt Baur. Fakt ist auch, dass die Rennen immer schneller werden. Nur der Helm vermag mit dem Tempo der Entwicklung im Radsport nicht mitzuhalten. «Da muss dringend etwas gehen», sagt Baur. Das Hirn sei einfach zu wenig geschützt. Einen Knochen könne man wieder flicken. Den Kopf unter Umständen nicht.
Dass Peter Baur neben Hans im Auto sitzt, hat einen tragischen Grund. Vor knapp zwölf Jahren verunglückte sein Sohn Felix im Trainingslager in Spanien schwer und erlag drei Tage später seinen Kopfverletzungen. Felix war ein vielversprechendes Radtalent. Auch er fuhr einst am GP Rüebliland, so kam der Kontakt zustande. Vater Peter will da sein und anderen gestürzten Fahrern helfen – «die bestmögliche Versorgung, die ich leisten kann, zur Verfügung stellen», wie er sagt.
Auf der letzten Runde wird das Rennen unübersichtlich. Ganz vorne befindet sich eine Gruppe mit zwölf Fahrern, dahinter einige Verfolger und zwei grössere Gruppen von Abgehängten.
Die Leistungsunterschiede zwischen den Teams sind gross, und die Schere im Nachwuchsbereich geht immer weiter auf. Hier die Prospectteams der grossen Mannschaften wie Grenke Auto-Eder, das zum Red-Bull-Bora-Hansgrohe-Rennstall gehört, letztlich alle drei Etappen gewinnt und die ersten drei Plätze in der Gesamtwertung belegt. Da die kleineren Teams oder Nationalmannschaften, die nicht so professionell aufgestellt sind.
Die Übersicht zu behalten, ist enorm schwierig. GPS-Tracker, wie sie an der Tour de Suisse oder der WM in Kigali – auch als Reaktion auf den Unfall von Furrer – in diesem Jahr zum ersten Mal im Einsatz sind, gibt es nicht. Für ein kleines Rennen wie den GP Rüebliland ist ein solches System schlicht zu teuer.
In Nebikon geht in diesem Jahr alles gut
Die einzige Informationsquelle ist Radio-Tour, also der Funk, der über das Renngeschehen informiert. Dieses befindet sich ganz vorne im Rennen, der Fokus liegt auf dem Sportlichen. Gefunkt wird etwa, welche Fahrer den Anschluss verlieren, wer angreift oder wer den Bergpreis gewinnt. Was dahinter passiert, entzieht sich dem Blick der Stimme des Rennens.
Zweimal wird es auf der Schlussetappe des GP Rüebliland etwas heikel. Einmal rollt ein Bidon in der Verpflegungszone auf die Strasse zurück. Ein andermal kommt in der Abfahrt ein Hobbyvelofahrer entgegen, auch wenn er neben der Strasse fährt, eine unangenehme Situation. Beide Szenen gehen aber gut aus, beide Male atmet Peter Baur hörbar aus.
Nach fünf Runden biegt Hans ein letztes Mal auf die Zielgerade in Nebikon ein. Das Rennen ist vorbei – ohne Sturz. Baur ist erleichtert. «Es kann so schnell etwas passieren», sagt er. Wie schnell, erlebten Hans und Peter Baur vor einigen Jahren am GP Rüebliland. Ein Fahrer kam von der Strasse ab und verschwand im Maisfeld. «Der war einfach weg, man hat ihn nicht mehr gesehen», sagt Hans. Der Fahrer kam aber unverletzt wieder aus dem Feld.
Text und Bild
Gregory von Ballmoos ist Sportredaktor. Er hat die Diplomausbildung am Medienausbildungszentrum (MAZ) absolviert und schreibt hauptsächlich über die Young Boys, Radsport und Handball.